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  • AutorenbildJoerg Nicht

Ganz ohne Farbfilm geht es nicht


Vor kurzem war ich zum ersten Mal auf Hiddensee. Warum nicht schon früher? Ich bin selbst ein wenig ratlos, denn die kleine Insel ist mir in zahlreichen Büchern, Filmen und auch in persönlichen Erzählungen immer wieder begegnet.

Bislang hatte ich es immer nur nach Rügen geschafft. Ich mag die Insel wegen ihrer abwechslungsreichen Landschaft: Bodden, Meer, Sand und Felsen. Binz ist ein vibrierendes Ostseebad, während es in Sellin ruhiger zugeht. Sassnitz ist Rügens Tor zur Welt – von hier aus kann man jetzt noch die Fähren nach Schweden beobachten. Und die Kreidefelsen erreicht man von hier aus zu Fuß. Die Residenzstadt Putbus und das Jagdschloss Granitz sind architektonische Kleinode. Dazu gibt es Alleen und lange Strände.

Und was macht Hiddensee so reizvoll? Die Insel ist nicht sehr groß – immer spürt man, dass man vom Wasser umgeben ist. Der Takt wird von den Fähren vorgegeben, die Urlauber und Einheimische auf die Insel bringen. Wer nicht nur für einen Tag kommt, sondern länger bleibt, merkt es: Wenn die letzte Fähre am Abend abgelegt hat, wird es still. Nach ein oder zwei Tagen kommen einem die Gesichter der Leute bekannt vor. Privaten Autoverkehr gibt es nicht. Man geht zu Fuß, fährt Rad oder nimmt eine Kutsche.

Von Kloster, einem der drei Hauptorte, sind es nur wenige Kilometer bis zum nördlichsten Punkt der Insel, zum Leuchtturm und zum „Klausner“, einem Restaurant, dem Lutz Seiler in „Kruso“ ein Denkmal gesetzt hat. In dem Roman geht es um einen jungen Mann, der im Frühjahr 1989 auf die Insel kommt und im Klausner arbeitet. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

Am Strand baden alle, wie sie wollen, nur Hunde dürfen das nicht. Ein paar Strandkörbe stehen aufgereiht, aber sie sind nicht nach Nummern geordnet oder stehen fein säuberlich in einer Reihe wie an anderen Stränden. Die gelassene Atmosphäre lädt zum Fotografieren ein. Der Himmel ist sehr hoch, es gibt Strand, es gibt Wasser. Bis in den Mittag hinein hat es am Wochenende geregnet oder es war bedeckt, dazu kam Wind. Der Leuchtturm im Morgenlicht wäre wohl interessant gewesen. So suchte ich nach Details. Auf dem Weg zum Leuchtturm fand ich eine Schnecke. Im Hintergrund lässt sich der Leuchtturm erahnen.

Schnecke mit Leuchtturm

Bild 1: Schnecke mit Leuchtturm

Mein Lieblingsmotiv – hier als Schnappschuss – ist der Hafen von Vitte, dem Hauptort der Insel. Das Ankommen und Abschiedsnehmen lässt sich dort beobachten.

Hafen Mitte / Hiddensee

Bild 2: Hafen Vitte

Gefunden habe ich ein Fischerboot, das einsam an der Küste lag. Die Sonne stand direkt über der Ostsee.

Fischerboot

Bild 3: Fischerboot

Hiddensee ist bekannt dafür, Dichter, Maler und andere Künstler anzuziehen. In „Kruso“ wird die Insel als ein magischer Ort beschrieben, der sich fast schon außerhalb der DDR befindet. In der Popmusik ist die Insel durch einen Song bekannt geworden, der längst als „Kult-Klassiker“ gilt: „Du hast den Farbfilm vergessen“ aus dem Jahr 1974. Die Band „Automobil“ kennt heute niemand mehr, aber ihre damalige Sängerin, Nina Hagen, kennt wohl jeder. In dem Lied beschuldigt die Ich-Erzählerin einen gewissen Micha, den Farbfilm vergessen zu haben, und droht ihm mit dem Ende der Beziehung, wenn ihm dies noch einmal passiert. Worum es ihr geht? Um Farbfotos. Sie hätten bewiesen, wie schön bunt hier alles sei (einschließlich ihrer Person). Da Micha aber nur Schwarz-Weiß-Fotos machen könne, sei das nun „alles nicht mehr wahr“. Man muss dazu wissen: Farbfilme waren Anfang der 1970er Jahre in der DDR ein begehrtes Produkt, Farbfotos für die Massen selten und teuer. Heute hat man hingegen Schwierigkeiten, auf Hiddensee überhaupt noch einen Film zu kaufen.

Die kleine Geschichte über den leicht missglückten Hiddensee-Urlaub bezieht ihren Charme auch daraus, dass sie um einen Farbfilm kreist. Farbe scheint einen höheren Informationsgehalt gegenüber dem Schwarz und Weiß sowie den Grauabstufungen zu bieten. Farbfotos, so die Erwartung, machen die Ich-Erzählerin schön und den Urlaub wahr. Lange bevor so etwas wie Instagram überhaupt denkbar war – die digitale Fotografie war gerade erst erfunden – wird schon mit dem Topos des schönen, hier: farbigen Bildes gespielt. Wenn es nicht farbig ist, kann auch die Schönheit des Moments nicht „abgebildet“ werden. Im Songtext ist aber noch eine weitere Pointe enthalten: Erst mit Fotos bezeugen wir, dass etwas schön und damit zugleich wahr ist – das wahre Glück am Strand von Hiddensee. Genau wie die sogenannten Instagram-Husbands von heute ist der Micha aus Nina Hagens Song eigentlich nur zum Fotografieren da. Er soll die Hauptperson schön aussehen lassen. Ob die Fixierung auf das Fotografieren einem Paar den Urlaub vermiest oder ob wir durch das Fotografieren eine fremde Landschaft besser kennenlernen als ohne Fotoapparat – das ist ein alter Streit, der es bis in die Popmusik geschafft hat.

Wolken - Schwarz-Weiß

Bild 4: Es geht auch ohne Farbfilm

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