Soziale Netzwerke wie Instagram sind vor allem als Selbstdarstellungsplattformen erfolgreich. Trotzdem gibt es auf ihnen auch fotografisch noch immer eine Menge zu entdecken. Ich schaue mir täglich viele Postings an und markiere sie mit "Gefällt mir". Aber an welche Fotos erinnere ich mich auch nach einiger Zeit noch? Über welche Bilder denke ich länger nach? In meiner Rubrik „Fotos der Woche“ möchte ich Euch Bilder vorstellen, auf die ich in der letzten Zeit aufmerksam geworden bin, die mich berührt oder beschäftigt haben.
Hinweis: Da manche Bilder von den Accountbetreibern gelöscht werden, zeige ich die Screenshots mit Quellenangabe und – wenn möglich – einem Link zur Homepage des Accountbetreibers.
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Noch 2017 war auf Instagram mit einem Porträt kein Blumentopf zu gewinnen. Das hat sich radikal geändert. Heute ist Instagram ein digitales „Gesichtsbuch“ und man findet dementsprechend viele Porträt-Accounts, die mit ihren Bildern auch viele Likes erzielen. Für mich stechen die Bilder von @bin.cloud aus Südkorea aus der Masse dieser Accounts heraus.
Besonders aufgefallen ist mir ein Foto, das einen jungen Mann zeigt. Gepostet wurde das Bild schon Ende Februar. Zu sehen ist ein Gesicht im Halbprofil, besser gesagt: das Gesicht ist nicht zu sehen, sondern nur ein schmaler Teil, der der Kamera ab- und dem Licht zugewandt ist. So ergibt sich ein scharfer Kontrast und zugleich eine filigrane Silhouette. Auf die Unterlippe und auf das geschlossene Augenlied fällt etwas Licht. Das Licht kommt vom Fenster, das im Hintergrund unscharf, ganz am Rand des Bildes zu erkennen ist. Von dem porträtierten Mann sieht man außerdem einen Teil des Oberkörpers und einen Teil des rechten Arms.
Das Foto ist für den Account eher ungewöhnlich – nicht so sehr, weil es „mehr Haut“ zeigt als die anderen Bilder, sondern weil es vordergründig einen etwas anderen Look hat, nicht so cinematische Farben (Orange- und Grüntöne dominieren oft auf den Fotos), sondern einen eher grafischen Ansatz. Das Gesicht im oberen Teil ist nur teilweise zu sehen, während der Oberkörper gut ausgeleuchtet die kontrastierende Fläche bildet, die sich scharf von dem dunklen Hintergrund abhebt, der fast die gleiche Tönung hat wie der dunkle Teil des Gesichts. An der Stelle, an der linke Schulter und Hals zusammenkommen, verändert sich die Abgrenzung von Vorder- und Hintergrund. Es liegt nur ein leichter Lichtschimmer auf der Haut, dahinter ist es dunkel.
Für mich ist es ein intensives Porträt, das seine Stärke aus dem feinen Spiel von Licht und Schatten gewinnt. Und es ist ein Beispiel dafür, dass mit einem einfachen Lichtsetting (hier das natürliche Licht des Fensters) sehr gute Porträts entstehen können. Spannend finde ich, dass sich in den blonden Haaren des Porträtierten das Licht ganz anders verfängt als in dunklen Haaren. Diese helle Fläche rahmt das Gesicht ein. Der Gesichtsausdruck ist irgendwo zwischen unbestimmt und in Gedanken versunken.
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Das zweite Foto hat @aribaumhaus Ende Februar gepostet. Im Hochformat (9 zu 16) zeigt es Hochhäuser in Berlin. Die Front auf der linken Seite liegt im Schatten, die Linien stürzen etwas. Das Haus auf der rechten Seite scheint etwas niedriger zu sein, es liegt in der Sonne. Seine helle Fassade ist fast überbelichtet, die Fenster strukturieren die Fläche. Beide Häuserfronten laufen auf eine weitere Hausfassade zu, hinter der ein graues Hochhaus aufragt. Am blauen Himmel sind ein paar Schleierwolken zu sehen.
Die Farben des Fotos wurden kaum nachbearbeitet, denke ich. Dafür sind auf der insgesamt sehr hellen Aufnahme die Schatten aufgehellt. So wirkt das Bild fast pastellfarben. Durch die Anordnung der Häuser entsteht ein Dreieck: die Dachlinie des linken Hochhauses scheint sich im eigenen Schatten fortzusetzen und trifft fast auf das Haus auf der rechten Seite. Das Haus, das die Flucht abschließt, verschwindet dahinter fast. Damit wird eine Spannung aufgebaut, die mich einnimmt.
Und es ist noch zwei Details, die mir auffallen: An der Metallfassung des Hausdachs links oben spiegelt sich die Sonne. Und am unteren Bildrand durchbrechen die Zweige eines Baums die leblosen Fassaden.
Tiny
Das Bild „Tiny“ hat Philipp Weinmann (@philipp.weinmann) schon Anfang Februar gepostet. Das Foto im Hochformat (2x3) zeigt die Rückseite einer Person, die vermutlich eine Treppe hinaufgeht. Im Vergleich zu der winzigen Silhouette der Person erscheinen das Hochhaus und die schwarzen Flächen riesig. Das Bild variiert das Thema Mensch und Architektur.
Die Grenze zur Graphik ist bei diesem Bild nicht leicht zu ziehen. Es folgt einem Trend, den auf Instagram Jason Peterson populär gemacht hat: dunkle Flächen weitgehend zu schwärzen und helle Flächen zu Weiß oder fast Weiß aufzuhellen. Beim Hochhaus weicht Philipp Weinmann von diesem Schema ab und arbeitet verschiedene Grautöne heraus, die heller werden, je höher das Haus ist, was bewirkt, dass das Haus auf den Betrachter höher wirkt. Auch auf der linken Seite ist eine hellgraue Fläche zu sehen. Die schwarzen Flächen enden in den oberen Ecken.
Das allein wäre mir wahrscheinlich nicht aufgefallen, hätte Philipp Weinmann das Foto nicht auch noch leicht gekippt. Der Effekt: Es entsteht ein fast symmetrisches V, in dessen Mitte die Person als inhaltliches Zentrum des Bildes steht.
Ich finde, das Bild weist eine hohe formale Perfektion auf. Mit den ausgewogenen schwarzen Flächen ist es fast schon zu perfekt. Mir scheint es etwas zu kommentieren, das der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich vor über 50 Jahren die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ nannte. Das Foto könnte auch ein Buchcover zieren. Das Buch würde vermutlich die Verlorenheit des Einzelnen in der modernen Großstadt, in der modernen Welt zum Thema haben.
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